Dienstag, 4. November 2008

Über den Sinn und Unsinn von Gattungseinteilungen

Jeder wird im Laufe seines schulischen Lebens mit dem Begriff der „Gattung“ im literarischen Sinne konfrontiert. Doch woher kommt die Vorstellungen über Gattungen und welche Probleme sind bei einer solchen Unterteilung, wie sie den Schülern gelehrt werden, denkbar?

Gattungen sind systematische Gliederungen literarischer Werke. Soviel ist klar. Genauer definiert kommt dann das dabei heraus: Gattungen sind historisch und normativ gebundene Konzepte über Dichtungsarten und Dichtungsformen und deren Darbietung, die sowohl beim Lesen, bei der Interpretation und bei der Produktion von Texten eine Rolle spielen. Die gängigen Bezeichnungen Dramatik, Epik und Lyrik lösen zuweilen ein wohlbekanntes Klingeln im Ohr aus.

Bei Aristoteles’ Einteilung kommt allerdings die Lyrik im heutigen Sinn noch nicht vor. Er behandelt diese unter dem Stichwort der Epik. Erst seit dem 18. Jahrhundert werden literarische Gattungen in das triadisches Modell mit den Hauptgattungen Lyrik, Epik und Dramatik unterteilt. Wenn man zu dieser Zeit etwas über Gattungen erfahren wollte, so erwarb man eine so genannte „implizite Poetik“. Das waren Werke, die die Regeln der Poesie unterrichteten. Der potentielle Autor erfuhr demnach, wie er in den einzelnen Gattungen zu arbeiten hat. Jedoch richtete sich der reelle Markt nicht nach solchen Poetiken. Wer etwas über die wirkliche Entwicklung der Gattungen erfahren wollte, verfolgte demnach lieber die Publikation aktueller Produktionen. Natürlich wurde auch im 18. Jahrhundert bereits hinterfragt, ob beispielsweise ein Werk nur dann gut sei, wenn es die Regeln der Gattung einhalte, oder es gerade sein Genie darin bewies, indem es die Regeln brach.

Herder merkte jedoch bereits 1767/68 an, dass es keinen universellen Maßstab für die Gattungseinteilung geben kann, da sich der Gattungsbegriff im Laufe der Zeit wandelt. Das beste Beispiel dafür ist die Komödie. Heute bezeichnen wir eben jene als lustiges Theaterstück, im 18. Jahrhundert war es das nur eingeschränkt. Herder spricht sich für die historische und kulturelle Variabilität der Gattungseinteilung aus. Werke können entweder den Konventionen einer Zeit oder Kultur folgen, oder diese verletzen.

Goethe hingegen spricht davon, dass die vorgenommenen Einteilungen nicht künstlich seien und dass es drei „echte“ Naturformen der Dichtung gibt. Diese werden nicht nach Strukturmerkmalen, sondern nach rhetorisch-stilistischem Aspekt unterschieden. Dabei ist die Epik als die klar erzählende, die Lyrik als die enthusiastisch aufgeregte und die Dramatik als persönlich handelnde Naturform zu beschreiben. Seiner Ansicht nach, können die Formen in reiner oder in Mischformen, wie der Ballade auftreten.

Der Herr Emil Staiger hat sich 1963 mit dem Begriff der Gattungseinteilung auseinandergesetzt und deren Sinn oder Unsinn erfragt. Dabei versteht er Lyrik, Epik und Dramatik als Fächer, in denen man texte unterbringen kann. Für viel versprechend hält er dieses System jedoch nicht, da kein text wie ein anderer ist und man dahingehend unendlich viele Fächer bräuchte. Doch auch Staiger lässt die Idee der dreiteiligen Gattungen am Leben. Seine Dreiteilung ist jedoch gebunden an sein Konzept vom Menschen. Die drei Gattungen entsprechen demnach den Bereichen des Emotionalen (Das Lyrische), des Bildlichen (das Epische) und des Logischen (das Dramatische). Diese Bereiche konstituieren das Wesen des Menschen und entsprechen den Phasen der Kindheit, der Jugend und der Reife.

Interessant erscheint mir auch die Position von Klaus Müller Dyes. Er plädiert im Grunde für systematische Gattungsbegriffe. Diese sind gekennzeichnet von einer exakt systematischen Beschreibung von Textsorten. Das klingt erschlagend? Wie definiert man noch gleich „Textsorten“? Der Begriff stammt eigentlich aus der Sprachwissenschaft, genauer, der Textlinguistik. Dort will man Texte auf Grund einer gewissen Regelhaftigkeit einer Textsorte zuordnen. Dabei werden sowohl innere als auch äußere Faktoren der Texte analysiert: die Klassifizierung erfolgt nach Form und Gebrauch, dominanten Themen und Stilmerkmalen
eines Textes.

Es ist feststellbar, dass eine Gattungseinteilung mit einer gewissen Problematisierung dieser einhergeht. Viele lehnen die Gattungseinteilung deswegen ab, weil sie meinen, dass eine solche Einteilung die Ganzheit der Literatur zerstört. Weiterhin wird oftmals angemerkt, die Einteilung beeinflusse den Interpretationsprozess und keine eindeutigen Definitionen für die Gattungen vorhanden seien. Natürlich darf auch der Punkt der Gattungsüberschneidung nicht vernachlässigt werden. Einige literarische Texte lassen sich schwer in die allgemein akzeptierte Dreiteilung einordnen. Wie steht es beispielsweise mit Rezepten, Bilderbuchgeschichten, Tagebüchern oder Comics?

Warum, wenn sich die Definition als so komplex erweist, wird der Gattungsbegriff in der Schule gelehrt? Nun, wenn man Kategorien schafft, so strukturiert man das Wissen der Schüler. Diese können einen vorliegenden Text leichter einordnen und beispielsweise eine Textinterpretation nach Gattungskriterien vornehmen. Man schafft also gewissermaßen Ordnung im unüberschaubaren Feld der Literatur. Ferner ist es den Schülern möglich, ihr Wissen über Gattungen als Produktionsstrategie zu nutzen. Gattungswissen ist in erster Linie als Lehrziel zu verstehen. Gattungswissen ist wichtig für die Entwicklung von literarischer Kompetenz. Der Schüler muss Texte aus jeder Gattung kennen, um ihre Unterschiede benennen zu können.

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